Reich-Ranicki: Deutschland verliert Chef-Kritiker
Die jungen Leute lernten Marcel Reich-Ranicki (✝93) kennen (und wie!), als er nicht so recht wusste, wem er den Deutschen Fernsehpreis 2008 für sein "Literarisches Quartett" und sein Lebenswerk nun vor die Füße schmeißen sollte. Deutschlands Literatur-Kritiker hielt der TV-Gesellschaft in einer kleinen Wutrede den Spiegel vor. "Wäre der Preis mit Geld verbunden, hätte ich das Geld zurückgegeben. Aber er ist ja nicht mit Geld verbunden, ich kann nur diesen Gegenstand, der hier verschiedenen Leuten überreicht wurde, von mir werfen, oder jemandem vor die Füße werfen. Ich habe auch früher häufig Wichtiges im 3sat-Programm gesehen, aber das hat sich jetzt geändert. Meist kommen da schwache Sachen, aber nicht diesen Blödsinn, den wir hier zu sehen bekommen haben."
In Marcel Reich-Ranicki, der heute im Alter von 93 Jahren gestorben ist, verliert Deutschland seinen bekanntesten Literatur-Kritiker. Auch wenn er den Preis damals ablehnte (spontan, wie er damals Moderator Thomas Gottschalk, 63 verriet: "Aber ich habe nicht gewusst, was hier auf mich wartet. Was ich hier erleben werde. Ich gehöre nicht in diese Reihe der heute – vielleicht sehr zu Recht – Preisgekrönten."): Sein "Literarisches Quartett" im ZDF war zwischen 1988 und 2011 eine wirklich geistreiche und stets kontrovers geführte Institution im deutschen Fernsehen.
Daneben war Reich-Ranicki auch als Journalist tätig, schrieb für die "Zeit" und leitete 15 Jahre lang die Literaturredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Seine Autobiographie "Mein Leben" wurde 1,2 Millionen Mal verkauft. Reich-Ranicki wurde für seine direkte Art gefürchtet. Eine Art, die der deutschen Kultur fehlen wird. Spiegel, wie er sie sinnbildlich aufstellte, sind nie schlecht. Vor allem nicht in Branchen, die nur aus selbstgefälligen Spiegeln bestehen.
Zuletzt litt der in Polen geborene Ranicki immer mehr unter gesundheitlichen Problemen. Im März machte er seine Prostata-Krebserkrankung öffentlich. Der "Literatur-Papst" war übrigens nicht immer so harsch wie an jenem Fernsehpreis-Abend. Es gab auch unzählige lustige Momente mit dem scharfsinnigen Kritiker. Deshalb lassen wir euch auch mit einem seiner berühmtesten zwischenmenschlichen Sprüche alleine: "Lieber, ich will Ihnen ein Geheimnis verraten: Sie können nicht mit jeder Frau dieser Welt schlafen. (Pause) Hören Sie zu, ich bin noch nicht fertig: Das ist nämlich noch lange kein Grund, es nicht wenigstens zu versuchen."